Und wie wir uns schamlos davon ausnutzen lassen
Wir sind zur Bewegung verurteilt. Bewegt sich ein Mensch weniger als 10.000 Schritte am Tag, steigt sein Risiko für Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wer sich weniger bewegt, lebt kürzer. Für diesen Umstand haben wir unseren jagenden und sammelnden Vorfahren zu danken. Prähistorische Funde deuten drauf hin, dass große und kräftige Huftiere zur bevorzugten Beute gehörten. Entsprechende Jagd war mit einem hohen Ausmaß an Kooperation und körperlicher Aktivität verbunden. Viel gehen, manchmal laufen, manchmal sprinten, manchmal verstecken. Stunden- und tagelang. Im Vergleich dazu führen unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, eine entspanntere Lebensweise. 10 Stunden Schlaf, 10 Stunden zum Essen, zum Ruhen und für die Fellpflege. Hin und wieder etwas klettern, um Nahrung (primär Früchte) zu sammeln. Herrlich. Die Physiologie des Schimpansen hat sich an diese Lebensweise angepasst. In unserem Fall hat die Evolution jedoch dafür gesorgt, dass Körper und Geist auf ein hohes Maß an Aktivität ausgerichtet sind.
Um sich von der hohen Beanspruchung zu erholen, mussten unsere Vorfahren natürlich auch Ruhephasen einlegen. Beispielsweise nach einer erfolgreichen Jagd, wenn genügend Nahrung vorhanden war. Auch die Länge der Nachtruhe gilt es aus der Zeit vor künstlichen Lichtquellen zu bedenken. Da aber auch auf eine lange Nacht in äquatornähe wieder ein Tag folgte an dem die ständig knappe und schnell verderbliche Nahrung beschafft werden musste, waren die Ruhephasen von vergleichsweiser kurzer Dauer. Hieraus entwickelten unsere Vorfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Drang zur Gemütlichkeit. Damit der Jäger und Sammler erfolgreich sein kann, musste er so gut und lange wie möglich ruhen, um Energie zu tanken.
Wenn wir nun in unsere Gegenwart blicken, wird schnell klar, dass körperlicher Ruhe, bzw. Inaktivität kein „rares Gut“ mehr ist. Im Endeffekt wurden die körperlich fordernden Aktivitäten unserer Vorfahren in vielen Fällen durch stationäre Arbeit am Schreibtisch ersetzt. Auch darüber hinaus scheint es in vielen Fällen so, als wäre es eines der größten Ansinnen der Menschheit, die eigene Bewegung immer weiter zu minimieren. Wir fahren E-Bike, um spätestens sobald ein Höhenmeter zu überwinden ist, den Zusatzmotor zuschalten zu können, um jeglicher „Anstrengung“ aus dem Weg zu gehen und trotzdem das Gefühl zu haben, aktiv zu sein. Bevor man sich Gedanken darüber macht, ob der Treppengang im bewegungsarmen Alltag eventuell eine willkommene Abwechslung wäre, stellt man sich auf die Rolltreppe daneben. Einkauf und Abendessen werden direkt an die Haustüre geliefert, damit wir nicht selbst „jagen und sammeln“ müssen. Bevor wir uns damit auseinandersetzen, wie das neue Ikea-Regal aufgebaut wird, bestellen wir dessen Aufbau gleich per Mausklick dazu. Generell kaufen wir Dinge am liebsten vom Sofa aus und arbeiten aus dem Home Office. Müssen wir doch einmal das Haus verlassen, steht der E-Scooter schon bereit, um den Schrittzähler bloß nicht zu sehr in die Höhe zu treiben.
Diese Alltags- und Mobilitätshelfer sind natürlich nicht alle grundlegend schlecht und destruktiv. In vielen Fällen kann eine gewisse Convenience das Leben effizienter und besser machen. So ist es in jedem Fall eine gute Sache, wenn ein E-Bike genutzt wird, bevor man sich gar nicht bewegt, oder der Roboter das Saugen übernimmt und so Zeit für Dinge besteht, die einen Ausgleich zum stressigen Alltag schaffen.
Dabei sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass der Drang zur Gemütlichkeit in unserer modernen Lebenswelt eigentlich fehl am Platz ist und wir uns diesem hier und da gezielt widersetzen sollten. Es muss nicht jedes neue Produkt angeschafft werden, das die tägliche Anzahl an Schritten reduziert und auch nicht jede Dienstleitung in Anspruch genommen werden, die einem das „selber machen“ abnimmt. Wie wir wissen wollen Unternehmen in vielen Fällen mehr Umsatz generieren und nicht die langfristige Gesundheit der Menschheit sicherstellen.
Man sollte die eigenen Bewegungsgewohnheiten kritisch hinterfragen. Wenn man feststellt, dass Bedarf nach oben besteht, kann in einem nächsten Schritt erörtert werden, wo mehr Bewegung sinnvoll in den Tagesablauf integriert werden kann. So kann ein Morgenspaziergang zum Bäcker des Vertrauens zum Ritual werden, anstatt das Auto zu nehmen. Meistens ist man nicht langsamer, wenn man die leere Treppe, anstatt die volle Rolltreppe nimmt. Man könnte so verrückt sein, absichtlich eine S-Bahn-Station früher auszusteigen, um nach der Arbeit einen gemütlichen Spaziergang einzulegen und das System dabei herunterzufahren.
Wenn man genau hinsieht, sind die Möglichkeiten, mehr Bewegung sinnvoll und individuell in den Alltag zu integrieren, endlos. Es gilt gezielte Bewegungsentscheidungen zu treffen, bevor prinzipiell die Option gewählt wird, die mit der geringsten körperlichen Aktivität einhergeht. Uns muss bewusst sein, dass wir auf physiologischer Ebene immer noch der Jäger und Sammler sind, den wir unseren Vorfahren nennen und dessen körperliche und mentale Gesundheit von einem gewissen Ausmaß an täglicher Bewegung abhängig ist.