Der Irrtum der verkürzten Muskulatur

Man hört es immer wieder: Stretching ist notwendig, damit die Muskulatur nicht „verkürzt“, oder um bereits verkürzte Muskultur wieder auf Länge zu bringen. Das Konzept, dass Muskulatur strukturell verkürzt, wurde zwar schon vor einigen Jahren widerlegt, die Annahme hält sich jedoch weiterhin hartnäckig. Sedierungs-Experimente zeigen, dass jeder Muskel, genauer gesagt jedes Gelenk seine volle Beweglichkeit zurückgewinnt, wenn das zentrale Nervensystem inaktiv ist. Das bedeutet, das Muskulatur nicht verkürzt, sondern vom Nervensystem tonisiert wird und sich somit in einem dauerhaften Zustand der Spannung befindet. Man kann die betroffene Muskulatur nicht willkürlich in einen Zustand der vollen Entspannung bringen und sozusagen „locker lassen“, was die Beweglichkeit unserer Gelenke einschränkt und zu Fehlhaltungen, sowie Überlastungserscheinungen führen kann. Stretching kann hier für einen kurzfristig positiven Effekt sorgen. Oftmals sind Verbesserungen der Beweglichkeit und Dehnfähigkeit jedoch schon 10 bis 15 Minuten später wieder verflogen. Die Muskulatur kehrt zurück in ihren tonisierten Grundzustand. Es wurde kein Trainingseffekt erzielt.

Um Verbesserungen zu bewirken ist passives Stretching nicht effizient. Wenn die Gelenksmobilität nachhaltig und funktionell vergrößert werden soll, sind andere Methoden weitaus ergebnisreicher. Eine dieser Methoden ist das Krafttraining. Über den vollen Bewegungsumfang ausgeführt, passiert hier genau das, was beim passiven Stretching fehlt: Wir bewegen uns aktiv in die gestretchte Position. Dabei bringen wir unserem zentralen Nervensystem sozusagen bei, gestretchte Positionen einzunehmen, indem es unseren aktiven Bewegungsapparat entsprechend ansteuert.  

Als praktisches Beispiel dient unsere Lieblingsübung, die Kniebeuge. In der unteren Position ist unser Knie komplett geschlossen, d.h. der Oberschenkel bedeckt die Wade: Ein effektiver Stretch für den Kniestrecker (Quadriceps). Um in die tiefe Position zu kommen, schieben wir unsere Knie nach vorne. Dies erzeugt eine Beugung im Sprunggelenk (Dorsalextension), was zu einem Stretch der Wadenmuskulatur und v.a. auch der Achillessehne führt. Zusätzlich bewegen wir unsere Knie in der unteren Position biomechanisch sinnvoll nach außen. Dies bringt die Adduktoren in einen wirksamen Stretch. Abschließend befinden sich auch die Hüftstrecker (Glutaeus maximus & medius) in der Dehnung, weshalb wir feststellen können, dass alle großen Gelenke der unteren Extremitäten, bei jeder Wiederholung einen wirksamen Stretch erhalten. Im Oberkörper wird eine gute Mobilität der Brust-Wirbelsäule benötigt und ausgebildet, um den Rumpf aufrecht zu halten. Dabei hilft zusätzlich die Beweglichkeit des Schultergelenks und dessen Fähigkeit der Außenrotation. Auch diese Aspekte werden bei der richtigen Ausführung der Kniebeuge ausgebildet.

Die gezielte Verbesserung der Gelenksmobilität lässt sich auch bei vielen anderen Übungen im Krafttraining darstellen und ist einer der Gründe dafür, warum (fast) alle Übungen über den vollen Bewegungsumfang ausgeführt werden sollten. Wir stellen fest: Krafttraining ist Stretching. Um die Effektivität zusätzlich zu erweitern, können vor der Übungsausführung spezifische, passive Stretches durchgeführt werden. Wenn der zuvor beschriebene Effekt der kurzfristigen Verbesserung der Beweglichkeit anschließend aktiv genutzt wird, um einen größeren Bewegungsumfang zu erreichen, können große Fortschritte erzielt werden. Dabei gilt es zu beachten, dass die Übung an sich für die Manifestation neuer Mobilität sorgt und nicht das Dehnen zuvor. Der Fokus bleibt also stets bei der Übung und nicht bei einer minutenlangen Dehneinheit vorab.

Darüber hinaus ist Stretching in so gut wie jeder Sportart grundlegender Bestandteil des allgemeinen Warm-Ups. Wenn die ausgewählten Dehnübungen sinnvoll abgestimmt sind, können Sie einen Mehrwert im Bereich der Verletzungsprävention darstellen. Wichtig hierbei ist, dass Stretching immer spezifisch ausgeführt werden sollte, um einen Mehrwert zu erzielen. D.h. es sollten die Bereiche und Bewegungen gestretcht werden, die in der anschließenden sportlichen Belastung gefordert sind. Im Falle des Krafttrainings arbeiten wir stets mit kontrollierten Bewegungen und ohne Fremdeinwirkung. Es kommt zu keinen plötzlichen und unwillkürlichen Veränderungen der Gelenkwinkel, die immer ein großes Verletzungspotential bergen. Deshalb kann beim Krafttraining direkt mit der Übung begonnen werden, indem man die Bewegung mit leichtem Gewicht verinnerlicht und die Strukturen auf diese Weise so spezifisch wie möglich auf die bevorstehende Belastung vorbereitet.

Auch möchte ich erwähnen, dass Stretching für viele Praktizierende, subjektiv empfunden, einen entspannenden Charakter hat. Hier spielt mit Sicherheit auch die Popularität des Yoga eine große Rolle. Wenn dem so ist und Stretching oder Yoga dabei hilft das System herunterzufahren, zu entspannen und für ein gesteigertes Wohlbefinden sorgt: bitte weitermachen! Funktionierende Entspannungsmethoden sind individuell und für alle Aspekte menschlicher Gesundheit von sehr hohem Wert.

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